Bibliothek des Grauens

Wir befinden uns im Jahre 2045. Schon längst gibt es Kolonien auf dem Mars. Die Bevölkerung der Erde ist durch den 3. Weltkrieg auf 0,00001 % dezimiert worden. Ganze Landstriche wurden dem Erdboden gleichgemacht, Ortschaften befinden sich metertief unter der Asche. In, bzw. Unter diesem ganzen Chaos gibt es aber immer noch Leben. Wenig Leben, aber es lebt.

Ein altes, unter seiner Last knarrendes Gewölbe ist spärlich mit Notstrom beleuchtet. Durch den Staub und die Spinnweben erkennt man, dass dieses Licht von einem trübe flackernden Bildschirm erzeugt wird. Technischer Fortschritt hat hier schon lange nicht mehr Einzug gehalten, aber das war schon immer so.

Ein runzeliges Männlein sitzt vor diesem Bildschirm. Mit glasigen Augen starrt es auf seine stupide Arbeit. Die Zahl 5 geistert durch sein verwirrtes Hirn. Sie ist das Einzige, was von einer einzigartigen Kultur und deren Auswürfen, denen er seine ganze Jugend und Freizeit, ja, sogar sein ganzes Leben widmete. Leider ist keiner mehr da, dem er von dem Fortschreiten seiner Arbeit berichten könnte.

Geräusche von nagenden Ratten und mutierten Bücherwürmern, die sich durch jede einzelne Lage von dem Buch: "Krieg und Frieden" naschen, durchströmen das finstere Gewölbe, das eher wie das einer Folterkammer anmutet. Stumm hallen noch immer die Schreie und Hilferufe unzähliger gequälter Eleven von den Wänden. Groteske Wandmalereien machen das Bild perfekt. Doch ein grauenvolles Geräusch hallt durch das Szenario. Es mutet von einer anderen Welt an, stammt eindeutig aus einer anderen Dimension: "Tip, tip, tip...!"

Diese Marter für das Gehirn wird ab und zu von Verwünschungen und Flüchen in einer alten Sprache durchbrochen: "Scheiße! Speicher... speichern... abspeichern...!"

Wie dieser arme, von der Natur gebeutelte Mann so dasitzt, überkommt einen spontan das Verlangen, sich die Augen auszuheulen und "liberate me!" zu schreien.

Und tatsächlich, die letzten Menschen, denen dieser arme Wurm der Literaturkunde begegnet ist, haben sich kreischend an den Ohren gezogen, nachdem er sie ihnen überreich mit seinen lapidaren Geschichten aus der Welt der Bücher angefüllt hatte. Das brachte das Männlein in Rage. Es war der Ansicht, dass allen das immense Wissen um die Kunst des "Titel-Tippens" abhanden gekommen wäre und nur es selber Zugangsberechtigung zu diesem Schatz der Bücher, der Bibliothek, zustände.

Das tat es auch allen kund und es entbrannte ein wilder Streit um die Schlüsselgewalt. Bald richtete sich alles, was bei Verstand war, oder wenigstens meinte es zu sein, gegen den Scherge des Bösen, gegen den "Möchtegern-Alleinherrscher".

Vor 50 Jahren hatte es mal ein strammer Bursche gewagt, sich gegen seine Schreckensherrschaft zu stellen. Dieser Verfechter des Guten und des guten Geschmacks hatte sofort die Besessenheit in seinen Augen erkannt und fürchtete sich vor dem stupiden Intellekt hinter der Stirn dieses Besessenen. Er hatte es gewagt das Reich der Bücher zu betreten, bewaffnet mit Bibel und Kreuz, in Form einer Krücke. Der arme Hüne faselte sich mit Exorzitien in Ekstase, sprühte mit Weihwasser und glaubte den Kampf zu gewinnen, doch das Böse entgegnete nur: "Die Bibel hat keine Inventarnummer!" Das brachte den Kämpfer aus dem Konzept und das Böse kam über ihn. Es fiel über das besinnungslose Opfer her und erzählte ihm von Musik. Den kühnen Helden sah man nur noch auf dem Klo verschwinden.

Die Freunde, voran eine tapfere Ritterin, verlangten nach Rache und Vergeltung. Es musste dem Bösen der Krieg angesagt werden.

Nun begann der lange erbitterte Kampf. Während die Ritterin und der noch rechtzeitig gerettete Bursche begannen eine Armee um sich zu sammeln und aufzuhetzen, mauerte sich unser Männlein in der Bibliothek ein. Alle Versuche der gegnerischen Seite, ihm die Stromversorgung zu kappen scheiterten. Der hunzelige Bibliothekar hingegen loggte sich mit dem neuen Computer ins Pentagon ein und fragte dort um Rat. Die Zuständigen dort müssen das mit der "Schlüsselgewalt" und dem "Bollwerk gegen den kleingeistigen Terror" wohl falsch verstanden haben. Noch in der selben schicksalsträchtigen Nacht wurden Scat-Raketen gegen Europa in Stellung gebracht und Stealth-Bomber zur Sicherung des Weltfriedens auf den Weg geschickt.

Während die Krieg und Verderben bringenden Schwerter des Todes auf ihrem Weg waren, waren die tapferen Mannen in eine Diskussionsrunde verstrickt und schlichen später mit Fackeln, Büchern ohne Inventarnummern und unzähligen Stimmgabeln den dunklen Weg zur Hölle hinab. Ein verwirrter Mann aus dem schönen Ostfriesland schloß sich an und man sang Lieder.

Doch dann erhellten Blitze die Nacht.

Wie konnte diese friedliche Prozession ahnen, dass 10 Minuten zuvor, die NATO aus unerfindlichen Gründen auseinandergebrochen war und die zersplitterten Armeen der Weltstreitmächte, die noch kurz davor im Begriff waren sich zu vereinen, nun begannen, sich gegenseitig der Vernichtung zuzuführen. Während also draußen der Krieg tobte, begann die Prozession den Mörtel aus der Mauer zu kratzen, die sie vom kulturellen Gut trennte.

Das Männlein hinter dieser Mauer hörte seltsame Geräusche, aber er ignorierte sie und widmete sich ganz seiner Aufgabe: Tippen.

Von diesem Gewölbe aus beherrscht es also seitdem die Welt. Niemals erfuhr es wieder etwas von der Außenwelt. Die ersten paar Jahre fühlte es sich noch etwas vernachlässigt, das ließ aber bald nach... die Zahl 5 war viel wichtiger!

Einige Überlebende des Absturzes der Raumstation auf dem Mond, gründeten vor Ort die erste Kolonie und eroberten von dort aus den Mars. Auf der guten alten Erde existiert nur noch unser vergessenes Männchen. Dort regiert es allein, so wie es das immer wollte. Doch ob sie es glauben oder nicht, seitdem herrscht Frieden auf Erden und fast absolute Stille. Bis auf das "Tipp..Tipp..Tipp...", das Relikt aus einer längst vergessenen Zeit und einer längst vergessenen Bibliothek.

ENDE